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Samstag, 17. Januar 2009

Ein Beitrag von Bernhard Streck

Im deutschen Sprachgebrauch wird die Relativierung fester Grenzen positiv bewertet, die Aufhebung von Schranken aber negativ. Eine grenzenlose Weite kann begrüßt werden, ein schrankenloses Verhalten stößt auf Kritik. Ein begrenzter Horizont wird eher hingenommen als ein beschränkter. Grenzen dürfen fließen, Schranken – vor Gericht, am Bahnübergang, an der Zollstation – haben aber fest zu sein. Die beiden Limes-Kategorien werden wohl deswegen unterschiedlich behandelt, weil Grenzen mehr mit Quantitäten, Schranken mehr mit Qualitäten verbunden sind. Im Hinblick auf mein Thema der erschütterten Wahrnehmung mag die "schwingende" Grenze Sinn machen, wie ich zu zeigen beabsichtige, eine schwingende Schranke erscheint aber außerhalb der Wahrnehm- und Deutbarkeit.

Fehlt der Wahrnehmung aber jede Limitation – gleich ob quantitativ oder qualitativ – betritt man das, was der Vorsokratiker Anaximander (610-550) apeiron nannte, also die Abwesenheit von peras, dem Ende. Alfred Weber sah darin den tieferen Grund der Ratlosigkeit im Nachkriegsdeutschland:

„Der Westen steht heute wieder dort, wo Anaximander gestanden hat, vor dem Apeiron, dem intellektuell Unerfaßlichen, nur außerintellektuell Erfahrbaren als dem eigentlichen Untergrund der Welt, das heißt aber am Zusammenbruch seines metaphysischen Wissens als eines allgemeingültig-aufzwingbaren, weil intellektuellen.“

Nietzsche übersetzte das apeiron als "Unbestimmtes"; es bereitet dem Denken unsägliche Mühe, weshalb die Moderne in ihrer Fixierung auf die Cartesianischen res extensae Unbegrenztes ganz den Theologen und Mathematikern überließ. Auch Schelling (1775-1854), der Mystiker unter den Idealisten, tat sich schwer mit der Definition der Endlosigkeit:

"Der ware Sinn (...) kann nur dieser seyn, daß Gott ohne Anfang seines Anfanges und ohne Ende seines Endes sey, daß sein Anfang selbst nicht angefangen habe, und sein Ende nicht ende, d.h. nicht aufhöre Ende zu seyn, daß jener ein ewiger Anfang, dieses ein ewiges Ende sey."

Sozialwissenschaftler haben es im Unterschied zu Philosophen mit Alltagswissen zu tun und dieses kommt nicht ohne Begrenzungen aus. Es ist sogar die Grundlage jeglichen Unterscheidungsvermögens, denn – wie Hegel (1770-1831) sich unmißverständlich ausdrückte – "das Ende des Einen ist da, wo ein anderes anfängt."3 Trotz dieser epistemologischen Nahtlosigkeit kann der Grenze aber ein Eigenleben zuerkannt werden; selbst das Bürgerliche Gesetzbuch kennt das an:

"steht auf der Grenze ein Baum, so gebühren die Früchte und, wenn der Baum gefällt wird, auch der Baum den Nachbarn zu gleichen Teilen."

Es kann auf der Grenze also Leben und Tod geben; einerseits bedeutet sie Raumteilung, andrerseits auch geteilter Raum. Je nach Blickwinkel erscheint sie, gerade für qualitative Kulturforscher, als Graben zwischen zwei unterschiedlichen Lebensräumen oder als eigener Lebensraum mit Sonderbedingungen. Dessen Grenzen liegen dann weit in den beiden getrennten Inländern und bestehen in der Regel aus nichts als Übergängen und Grauzonen. Mit diesen Einsichten, die die Relativierungspotenz der Ethnologie voll ausschöpft, sind wir nun gerüstet für die Betrachtung pulsierender Grenzräume, die immer mehr zu einem genuinen Forschungsfeld unseres Faches werden und aus dem ich Ihnen ein Beispiel aus der Leipziger Arbeit vorstellen möchte, die Kairos Ökonomie an staatlichen Verwaltungsgrenzen.

Die Kairos Ökonomie unterstelllt Grenzwirtschaftlern eine Handlungslogik, der im im Arbeitskreis „Glücksökomien“ des Instituts für Ethnologie der Uni Leipzig eine systematischen Untersuchung unterzogen wird. Die Gründer der Arbeitsgruppe sprechen von einer Kairos Ökonomie, wenn Nischen in unterregulierten oder auch überregulierten Kontexten genutzt werden. Beides kann in Grenzräumen gegeben sein, weil dort unterschiedliche Systeme aufeinander stoßen. Damit ergeben sich Freiräume, Preisgefälle und Grauzonen, die für kurzfristig Entschlossene und an ein solches Handeln Gewöhnte große Chancen bieten.

In den Sozialwissenschaften genießt die Vorstellung von Norbert Elias (Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Basel 1939) großen Respekt, daß der zivilisatorische Prozeß Schritt für Schritt die Bedeutung des von der Hand in den Mund-Lebens zugunsten eines langfristigen Planens und Wirtschaftens zurückdrängt. Die Ethnologie kennt hierzu viele Gegenbeispiele. Es leben nicht nur verschiedene Wildbeuter als Zeitgenossen, auch der mit hohen Wachstumsraten gesegnete Informelle Sektor sorgt weltweit für das Überleben kurzfristig angelegter Kleinökonomien. Die Tsiganologische Forschung unter Peripatetikern, Dienstleistungsnomaden und Zigeunergruppen mit ihren zum Teil ehrwürdigen Rückzugs- und Fluchtkulturen kann zeigen, daß "Kairos-Ökonomie" in der heutigen Zeit trotz oder wegen der unvermeidlichen Globalisierung Hochkonjunktur hat.

Von der main-stream-Forschung, die auf feste Zahlen, Trends und moderne Relevanzparameter aufbaut, werden diese Wirtschaftsbereiche in der Regel übersehen. Hier liegt die Chance der Ethnologie, mit ihrer eingeübten Mikroperspektive Basisprozesse zu verfolgen, die dann eben sehr häufig eine solche Kairos-Ökonomie sichtbar werden lassen. Hier kann sich ethnologische Empirie im Sinne einer Grundlagenforschung zeitgenössischer Pluralkontexte bewähren.

Die Forschung kann dabei auf die jahrzehntealte Tradition der Leipziger Wirtschaftsethnologie aufbauen, die zwar die längste Zeit marx-dogmatisch war, nach der Wende aber auch gemischte Produktionsweisen und den Informellen Sektor anerkennen mußte. Dann trug die Forschung über Dienstleistungsnomadismus innerhalb des SFB 586 ganz wesentlich zum Verständnis wirtschaftlicher Komplementarität bei, die im Falle der untersuchten Zigeunergruppen des Schwarzmeerraums ja in der Regel mit bewußter und gewollter kultureller Dissidenz einhergeht.

In der Arbeitsgruppe geht es darum, in Regionen mit ausgeprägter Grenzkultur parallel Daten über einschlägig handelnde Personen, über ihre Bewegungsspielräume und über deren kulturelle Reflexionen zu sammeln. Leitgedanke ist dabei das Warten auf den rechten Zeitpunkt, seine Wahrnehmung und Nutzung. Vom Handlungstypus des Spielers unterscheidet sich die Kairosökonomie in ihrer Haushaltsbezogenheit, die viele Menschen unterschiedlicher Generationen umfassen kann, von der Ökonomie des spätkapitalistischen Spekulanten durch ihre relative Voraussetzungslosigkeit insbesondere in technologischer Hinsicht. Doch läßt sich diese wiederum nur bedingt mit den Chancen des Wildbeuters vergleichen, der bekanntlich von der Natur, ihren Rhythmen und Launen abhängt. Dienstleistungsnomaden, Peripatetiker oder Zigeunergruppen hängen von den "Ressourcen der sozialen Umwelt" ab und sind damit Teil übergeordneter Kontexte.


Das Vorhaben bewegt sich in breiten Zonen der Marginalität. Die industrie-wirtschaftlichen und staatskontrollierten Rahmenbedingungen in sogenannten Schwellenländern erzeugen Überregulierung und Unterregulierung im Wechsel. Im selben Rhythmus nehmen die entsprechenden Glücksritter ihre Jagd nach dem Kairos auf. Die Frage, was für Menschen das sind, steht verständlicherweise im Zentrum des Forschungsinteresses. Man erwartet individuelle Typen und professionelle Grenzgänger, aber auch Mikrogruppen von beruflichem, altersbedingtem oder verwandtschaftlichem Zusammenhalt. Erst ihre Aktivitäten im Ensemble, ihr Konkurrenz- und Solidarverhalten, erst recht ihre Abgrenzungsbemühungen gegen formale und überwachte Handlungsmuster machen eine Grenzkultur aus.

Das Projekt rückt marginale Erscheinungen in den Mittelpunkt. Damit setzt es eine charakteristische Tradition der Ethnologie fort, die seit Beginn ihres Fragens sich um Gruppen kümmert, die vom Hauptstrom der Geschichte beiseite geschoben werden. Der handlungstheoretische Ansatz war im Transaktionalismus der 70er Jahre schon mit Erfolg entwickelt worden, man denke an die Figur des homo manipulators bei Jeremy Boissevain, der eher die Kulturvorschriften zum eigenen Vorteile nutzt als daß er sich ihnen unterwirft. Jetzt geht es um Glücksritter entlang der Grenze und beim Überschreiten derselben. Ihre Handlungen nutzen die Grenze ebenso, wie sie sie in Schwingung versetzen und am Schwingen halten. Sie verletzen sie, sie verschieben sie, aber sie gebrauchen und brauchen sie auch, weil sie für ihre eigene Fluchtkultur mit den intrinsischen Ausweichmanövern unverzichtbar ist.

Meidungsverhalten ist im Rahmen der ethnologischen Konfliktforschung schon seit längerem als Überlebensstrategie in asymmetrischen Kontexten erkannt und studiert worden. Gerade die Kolonialgeschichte liefert hierzu reichhaltiges Anschauungsmaterial. Fluchtbereitschaft in Grenzzonen sieht wie eine Steigerung der Kontaktvermeidung und des sozialen Entzugs aus. Die Virtuosen der Kairosökonomie beherrschen nicht nur den intentionalen Wechsel von Reden und Schweigen, wie er in der Doppelperspektive von der gezeigten und der verborgenen Kultur aufgehoben ist, sondern sie kennen und nutzen auch die Verstecke, die sich unter und hinter der Grenze anbieten. Sie haben sich die Transgression als Kulturtechnik zueigen gemacht; das Resultat scheint aber weniger Enträumlichung genannt werden zu können als vielmehr eine Art Mehrbödigkeit. Das scheint ein Charakteristikum der schwingenden Grenze zu sein, dass sie auf verschiedenen Ebenen jeweils anders verläuft oder anders gehandhabt wird.


Das Vorhaben läßt interdisziplinär verwertbare Ergebnisse erhoffen, die wesentlich für das Verständnis von Selbstregulierung, Überlebensökonomie, Multilingualität und Informellem Sektor sein dürften. Alle vier untersuchten Lebensräume leben von schwingenden Grenzen, das heißt Grenzziehungen, die höheren Orts vorgenommen wurden und mit modernster militärischer und administrativer Gewalt abgesichert werden, am "niederen Ort" sich aber als flexibel erweisen, verschoben und ausgenutzt werden können, ohne daß an ihrer Beständigkeit gezweifelt werden müßte. Wie die ethnologische Korruptionsforschung bisher schon zeigen konnte, sind Räumlichkeiten, gesetzliche Ordnungen und Grenzziehungen durch ihre systematische und professionelle Verletzung nicht in Auflösung begriffen, sondern zeigen einfach nur ihre mehrbödige Beschaffenheit.

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